September 16, 2001
Abraços do Brasil!
Diese kleine Pflanze habe ich bei meinem ersten Favelabesuch fotografiert -
ein Hoffnungszeichen, gerade jetzt nach dem 11. September für uns alle!
Die letzte Woche hat mir kräftig zu schaffen gemacht. Seit Dienstag fühle ich mich ziemlich zerrissen. Auf der einen Seite will ich mich voll und ganz meinem Aufenthalt und dem Projekt widmen, auf der anderen Seite bin ich mit meinen Gedanken ständig bei den schockierenden Ereignissen und den Reaktionen darauf. In jedem Restaurant hier hängt ein Fernseher und ständig werden die Bilder der Katastrophe wiederholt, bis man schon nicht mehr hinsehen möchte, weil man eh nicht die Ausmaße des Schreckens begreifen kann. Ich lebe ja auch, ich gehe durch diese pulsierende Stadt. Die Menschen sind geschockt, aber sie zeigen es nicht direkt, man hält Emotionen zurück. Kaum vorzustellen, bei dem verbreiteten Cliché vom Südamerikaner. Tudo Bom? – Erstmals ging mir die obligatorische „Gutelaunefrage“ so richtig auf den Zeiger. Es wird weiter getanzt, gelacht und gefeiert, und letztendlich sage ich: Zum Glück!
Die Themen des Projektes sind ja nicht untergegangen. Auch sie fordern meine Kraft und Aufmerksamkeit. Die intensive Phase, in der ich mit den Künstlern Michael Wesely und Golo Gott in die Favelas fuhr, wurde zwar abgelöst von einer Distanzierteren. Aber diese Distanz, hervorgerufen durch die Leinwand des Kinos im „Centro Cultural der Banco do Brasil“ schwächt nicht die Sprengkraft der Erlebnisse und Geschichten, die auf ihr abgebildet werden. Sie werden fast noch intensiver, weil gezielt wahrnehmbar. Wo vorher unsäglich viele Reize auf mich einströmten, die im Moment nicht zu verarbeiten waren, beginne ich jetzt durch die Reflektion zu reflektieren. Die Filmreihe ist vielfältig, informativ und thematisch orientiert. Täglich gibt es Debatten mit Filmwissenschaftlern, Regisseuren oder Akteuren. Ich verstehe zwar bisher nur die groben Themen, aber die Reaktionen des Publikums sind interessant und schließlich ist es meine Aufgabe diese zu studieren und zu dokumentieren. Bei den Filmen ist es leichter. Oft reicht ein aufgeschnapptes Wort aus, um dem Bild die Bedeutung abzuringen. Sie schulen darüber hinaus mein Sprachverständnis. Es sind Doku`s, Musikvideos, Kurzfilme & Spielfilme aus unterschiedlichsten Zeiten und von verschiedensten Standpunkten. Wo früher romantisiert wurde, steht heute meist die Suche nach den Wünschen und Problemen der Menschen im Vordergrund, aber auch die Gewalt und deren Anziehungskraft. Oft sind es die Bilder der Gesichter, die mich in ihren Bann ziehen, aber auch die Blicke von den Bergen auf die Stadt, verstärkt durch das Weitwinkelobjektiv der Kamera, oder die Geschichten und Schicksale, die sich auf der Leinwand entblättern. Ich lerne jeden Tag etwas Neues über diese Welt der Favelas, ihre Regeln und Struktur. Oft will ich nach dem Film noch sitzen bleiben und alles sacken lassen, aber das ist nicht üblich. Kaum ist das >FIM< ausgeblendet, stürmen die Zuschauer aus dem Saal und er ist leer, ehe der Abspann zu Ende ist und wenn der letzte Ton verklingt sind alle Türen geschlossen. Dies ist eine von den kleinen Gesten, die mir klarmacht, wie unterschiedlich die Verhaltensweisen in unseren Kulturen mitunter sind. Um noch mehr zu begreifen, versuche ich jetzt meine Sprachkenntnisse systematisch zu verbessern jede Woche will ich an zwei Tagen anderthalb Stunden Unterricht nehmen, bei einer Professorin, die mir Fernando (mein Vermieter) vermittelt hat. Noch vermische ich zwei oder drei Sprachen, weil mir manchmal das passende Wort fehlt. Es ist aber auch nicht einfach, da ich immer wieder mit Menschen zu tun habe, die gut bis sehr gut deutsch oder englisch sprechen. Vamos ver! – Wir werden sehen.
Im Moment spielt das Wetter hier verrückt. Gestern hat es ununterbrochen geregnet bei Temperaturen um 15°C. Heute kam die Sonne wieder hervor, aber kühl ist es immer noch. Na ja, das sind wohl die letzten Wehen des hiesigen Winter ;-)
Ich hoffe, Ihr haltet das aus, wenn in der nächsten Zeit ein paar sonnige Bilder auf Eurem Bildschirm auftauchen. Aber vielleicht wird die Seite ja auch zur Insel, auf die Ihr Euch in kalten Tagen verkrümeln könnt.
Bis dahin wünsche ich Euch noch einen sonnigen Herbst. Wer schickt zuerst Herbstblätterfotos???
Alles Liebe aus Rio & Até mais!
Euer Axel
axel at September 16, 2001 01:26 PM